Myrtax - Raub in der Bibliothek

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19. Katzen 7344 Vierte Ära NL

Morgengrauen

Myrtax

 

 

Myrtax hielt sich in den Schatten der Regale und der Überhänge, welche hier dann und wann aus der Wand ragten. Nicht, weil er die Sonne fürchtete, sondern weil er seinen Herrn Jilal nicht stören wollte. Die ersten fahlen Sonnenstrahlen des Spätherbstes fielen auf die grobe Rinde des großen Baumes, das Licht der Sonne brach sich auf den kleinen Regentropfen, die sich an die Fensterscheiben klammerten und nicht loslassen wollten.

Der Sohn der beiden Clananführer saß in der Bibliothek der Lachlidan, brütete über mehreren dicken Wälzern, die in einer Schrift verfasst waren, die Myrtax aus der Entfernung nicht entziffern konnte. War es Alt-Vampirisch? Oder doch die Sprache der Altvorderen, von denen er Jilal hatte sprechen hören?

Die Altvorderen.

Myrtax war fasziniert, seit er Jilal hatte belauschen können. Seit einiger Zeit - schon vor seiner Anstellung - schien sich Jilal für Magie und ihre Anwendungszwecke begeistern zu können. Er sprach viel mit seiner Vertrauten Marseille darüber. Sie schienen mehr als nur Herr und Vertraute zu sein, was allerdings den Eltern von Jilal, nicht so recht zu gefallen schien.

Zugegeben, Marseille war schön und erschien auch erst freundlich, aber Myrtax war sie so etwas wie ein Dorn im Auge, den er nicht lösen konnte. Sie war immer da, immer wachsam, immer freundlich. Meistens ignorierte sie Myrtax, sprach mit ihm leicht unterkühlt und gab ihm das Gefühl, ein Nichts zu sein.

Nun, dieser Umstand entsprach in den Augen eines Vampirs der Wahrheit. Menschen waren schnelllebiges Vieh, welches sich ebenso schnell reproduzieren konnte. Die lebenden Blutbeutel in den verschiedenen Sklavenhäusern in der Nähe des Anwesens zeugten davon. Männer, Frauen und Kinder durften nicht arbeiten, sich nicht anstrengen und durften nur zu bestimmten Zeiten essen, trinken und sich ausruhen. Sie durften nur das essen oder trinken, was ihnen vorgesetzt wurde. Aßen sie es nicht, so wurde es ihnen gewaltsam verarbreicht.

Myrtax hatte nicht vor, in das Leben des Hofsklavens zurückzukehren. Das einzige, was ihm an seiner Tätigkeit für den Herrn Jilal nicht gefiel, waren die Bisse und das Aussaugen, von dem er immer ein paar Tage brauchte, um sich zu erholen. Problematisch wurde es nur, wenn Jilal auf mehr als nur Blut aus war und Marseille dazukam. Mittlerweile hatte Myrtax kein Problem mehr mit Nacktheit - seiner oder der von den Vampiren - aber mehr war auch nicht zu holen, was die beiden Vampire ein ums andere Mal verärgerte. Was sollte er denn tun? Es war nicht so, dass Myrtax es nicht wollen würde, aber es gab ihm nichts und er fand auch keinen Gefallen an ihren Spielchen.

Jilal schien sich allerdings weniger für die Spielarten der Druiden zu interessieren, sondern eher für die Magie der Altvorderen. Entweder wollte er nur die Altvorderen studieren oder fand die Druiden langweilig, ob aus Wissen oder Ignoranz.

Myrtax wollte beides lernen. Er hatte Jilal aber nicht darauf angesprochen, denn die Bücher der Vampire waren für Menschen tabu. Und kein noch so gönnerhafter Vampir würde es erlauben, wenn einer seiner Sklaven oder Diener auch nur in die Nähe von Magie kam. Wäre ja noch schöner, einen magischen Aufstand wollte kein Vampir niederschlagen.

"Mein Herr?" Myrtax trat aus dem Schatten heraus. "Der Tag bricht an. Wollt Ihr Euch nicht langsam zurückziehen? Darf ich Euch noch eine Kleinigkeit zu essen ins Zimmer bringen?"

"Ist es schon wieder soweit?" Jilal hob den Kopf, klappte das Buch zu und stapelte die vier großen Folianten aufeinander. Einer von ihnen schien älter zu sein als alle anderen, der Buchrücken hatte schon leichte Risse.

"Ja, Herr. Ihr sitzt seit Anbruch der Dämmerung gestern hier, habt kaum gegessen oder getrunken.", entgegnete Myrtax mit einer Verneigung. "Marseille hatte sich nach Euch erkundigt. Sie wartet in Eurem Gemach."

"Ah." Die schmalen Lippen des Vampirs verzogen sich zu einem beinahe gierigen Grinsen. "Ja, ich verstehe. Bring uns dann noch eine Kleinigkeit. Und räume die Bücher weg, ich erwarte dich oben."

Jilal erhob sich aus der Nische, die erstaunlich gemütlich ausschaute mit den Fellen und Kissen. Er ließ Myrtax die Lampe mit den Glühwürmchen, die für Licht gesorgt hatten. Der junge Sklave war sich unschlüssig, wie er die vier großen Folianten wieder zurückbringen könnte - von einer Zuordnung ganz zu schweigen - aber er tat sein Bestes.

Eins nach dem anderen.

Als er dann den dritten Folianten an seinen angestammten Platz brachte, fiel ihm ein schmaler Ledereinband auf, der sehr unscheinbar neben den ansonsten dickeren Büchern und hohen Folianten hockte und scheinbar nicht entdeckt werden wollte.

Die Altvorderen - Eine Kurzfassung stand dort. Einen Autor gab es nicht, jedenfalls nicht auf den ersten oder sogar den zweiten Blick.

Myrtax schaute sich verstohlen um. Der ältere Bibliothekar war nicht in Sehweite und auch sonst wirkte die Bibliothek verlassen. Nicht einmal andere Lesende waren zu sehen.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, Blut rauschte in seinen Ohren, als er das schmale Buch rasch unter sein Hemd und in den Hosenbund schob. Möglichst unauffällig brachte er den letzten großen Folianten in das Regal zurück, nahm die Handlampe mit den Glühwürmchen mit auf den Weg in die Küche.

"Koch Hurath?", rief Myrtax in die Küche hinein. Der schmale Koch mit den erstaunlich starken Armen trat neben einem Kessel hervor, den er misstrauisch begutachtet hatte. Er war leer, dennoch schien irgendetwas dem Koch nicht zu gefallen.

"Ah, der junge Herr Myrtax.", säuselte Koch Hurath. Diese seltsam unterwürfige Sprache hatte der Koch angenommen, als bekannt wurde, dass Myrtax nun der Haussklave des jungen Herrn Jilal geworden war. Myrtax hatte das Gefühl, dass Hurath sich damit über ihn lustig machte. "Was kann ich für Euch tun? Wieder etwas Nüsse, falls sie Euch fehlen?"

"Nein danke, meinen Nüssen geht es wahrlich hervorragend.", grinste Myrtax süffisant. "Der Herr Jilal möchte für sich und seine Marseille ein Tagesmahl. Er hatte nicht zu Mittag, also tischt reichlich auf."

"Reichlich, sagt Ihr? Könnt Ihr denn so viel schleppen?"

"Ich schleppe genug, da werde ich ein großes Tablett schon schaffen."

"Ach, seit wann schleppt Ihr denn wieder?" Hurath stiefelte zu einer Schlachtbank und begann von einem großen Eber dicke rote Scheiben abzuschneiden. Einige Tropfen von dem dunklen roten Blut liefen noch aus dem Körper. Die Eingeweide waren bereits entfernt worden; Herz, Lunge und Leber lagen säuberlich auf einem Mahagoni-Tablett aufgereiht.

"Mit den besten Grüßen der Küche.", summte Hurath, als er das noch etwas blutige Herz auf das Tablett legte, was er Myrtax in die Hand drückte. Darauf lagen nun nicht nur das Herz, sondern dicke Scheiben Grau- und Weißbrot, verschiedene Arten von Käse, dicke Fleischscheiben des Ebers, dazu getrockneter Schinken, Blutwurst, weiße und rote Weintrauben, dazu eine verkorkte Kanne mit jungem Blutwein und zwei goldenen Bechern ohne Stiel.

"Richte ich aus.", grinste Myrtax und war sich sicher, dass in seinem nächsten Essen eine dicke Rotzfahne hängen würde. Mit dem Buch am Bauch balancierte er so schnell es ging durch das Anwesen und den Baum hoch. Bevor er zu seinem Herrn wanken würde, versteckte er das schmale Buch unter der Tischplatte des Schreibtisches, den er glücklicherweise besaß. Da würde man jedenfalls nicht zuerst schauen.

Das Tablett war erstaunlich schwer, aber Myrtax schaffte es ohne Zwischenfälle zwei Stockwerke höher. Gut, dass er einen Zwischenstopp eingelegt hatte, denn auf dem Weg nach oben kam ihm eine erstaunlich wache Herrin Rovinna entgegen. Er wich rasch aus, atmete ihren frischen Geruch nach Minze ein, als sie ihn mit nur einem flüchtigen Blick passierte.

"Würdet Ihr klopfen?", fragte Myrtax eine der beiden Wachen, die an der Tür zum Gemach seines Herrn standen. "Ich habe die Hände voll."

Die beiden Vampirwachen schauten sich an, der Rechte hob die schmale Augenbraue, seufzte und klopfte dreimal hart an.
TOCK...TOCK...TOCK...

"Herein!"

Die Wache öffnete die große Tür und ließ Myrtax herein. Die Wachen waren aufgestellt worden, seitdem Jilal verwundet von seiner Reise gegen einen der Zwölf Kleinen Clans heimgekehrt war. Man befürchtete Attentäter. Myrtax war fast über jeden Zweifel erhaben, denn er diente Jilal schon vor seiner Reise und war hier geboren worden. Fast jeder Vampir kannte ihn auf die eine oder andere Weise.

"Mein Herr, ich bringe Euch Euer Mahl!", rief Myrtax, um Jilal zumindest einen Augenblick von der schönen Marseille wegreißen zu können. Sie kicherte, ihre Wangen waren leicht rosa gefärbt und eine Brust war zu sehen, sie hing aus dem Kleid. Die Vertraute schien sich darüber keine Gedanken zu machen und ließ sie unbekleidet. Myrtax vermutete, dass sie ihn wieder irgendwie verführen wollte, aber der Anblick einer nackten Brust war nichts, was ihn interessierte.

Vielmehr interessierte ihn die noch spärlicher bekleidete Dienerin, die auf dem Rücken zwischen ihnen lag. Myrtax kannte ihren Namen immer noch nicht, aber er erkannte sie: es war die Dienerin, die Jilal beinahe tödlich ausgesaugt hatte.

Das Licht der Sonne wurde massiv abgedämpft durch die dicken Vorhänge an den zwei großen Fenstern, kam nur mit Mühe und Not in das Zimmer. Mit so viel Mühe, dass die Vampire keine Angst vor der tödlichen Gewalt haben mussten und ohne, dass zusätzliche Leuchtmittel nötig waren.

"Ah, gerade rechtzeitig.", lachte Jilal, erhob sich vom Bett. "Stell es hier ab. Ja, gut. Sogar Blutwein? Gibt es etwas zu feiern?"

"Das weiß ich nicht, Herr, der Koch hat es mir so gegeben. - Oh, und das Herz mit besten Grüßen aus der Küche."

"Mit besten Grüßen, Marseille, hast du gehört?", rief der Mann aus und Myrtax hatte das Gefühl, dass er irgendwie betrunken war. Konnte menschliches Blut so etwas bewirken? Nein, war die Dienerin vielleicht betrunken und sie labten sich an ihrem alkoholisierten Blut? War so etwas möglich? War sie freiwillig betrunken?

Der Dienerin schien es egal zu sein. Ihr Oberkörper lag völlig frei, ihr Busen lag für jeden offen da, am Hals, um die Brüste und am Bauch tummelten sich Bissspuren der Vampire. Keine der Wunden war aufgerissen worden, was für Myrtax ein Zeichen dafür war, dass sie mit ihr und ihrem Blut spielten.

Ein direktes Vergehen gegen die Infernalé, die beiden Götter, welche einen Grundsatz dafür aufgestellt hatten, welcher nun im Anhang zum Infini Inferné, dem Roten Kodex, zu finden war. Nicht, dass Myrtax seinen Herrn oder auch nur seine Vertraute belehren wollte.

"Ich habe es gehört.", kicherte die Vertraute. "Hat uns das Menschlein Essen gebracht?"

"Reichlich davon." Jilal zeigte ihr das Herz des Ebers und sie gab einen zufriedenen Laut von sich, ließ ihren Zeigefinger über das Brustbein und den Bauch der Sklavin wandern. Dieses Mal schien sie ganz bei sich zu sein, denn sie erschauderte.

"Bleib doch noch ein Weilchen.", raunte die Stimme des Herrn und Myrtax fühlte sich zuerst angesprochen, bis er sah, dass sein Herr das weiße Bündel an Beeren am Stiel in der Hand hielt und zur Sklavin schaute. Er legte sie ihr auf die Brust und ließ sich neben ihr nieder, zupfte einige der Beeren ab.

"Du kannst gehen." Jilal schaute Myrtax an, als hätte er sich geweigert. "Ich erwarte dich zur Abenddämmerung wieder."

"Ja, Herr." Rasch verneigte sich Myrtax und bevor die beiden Vampire auf die dumme Idee kamen, ihn auch noch als zu bespielenden Blutbeutel einzusetzen, floh er beinahe aus dem Gemach, schloss die Tür hinter sich. Die Wachen ignorierte er, auch, wenn er ihre neugierigen Blicke auf seinem Hinterkopf spürte.

Das war knapp gewesen. Er beneidete die Sklavin nicht. Ihm hatte ausgereicht, was die beiden Vampire mit ihm getan hatten und er wollte nicht dabei sein oder sich ausmalen, was sie mit ihr anstellen würden.

Myrtax verzichtete auf das Frühstück des Tages, nahm sich das Buch unter seinem Schreibtisch hervor und begann zu lesen.

"Die Altvorderen waren eine Rasse für sich. Ohne sie zu kennen, wissen wir um ihre Geheimnisse, um ihre Lügen, ihre Werke und ihre Gedanken."

Myrtax fand es schwer, dem Autor zu folgen, denn er schrieb in Alt-Vampirisch, was der junge Diener nur im Ansatz beherrschte. Es gab leider auch keine Datumsangabe, von wann das Buch stammen mochte. Es gab nämlich keinen Grund mehr, Alt-Vampirisch zu schreiben. Für Myrtax war es das Zeichen, dass der Autor das Buch vor einer sehr langen Zeit geschrieben haben musste.

"Die Magie der Altvorderen ist ein kurzweil' Ding. Schwierig zu lernen, schwierig zu meistern."

Ernüchternd. Auf der fünften Seite fand er dann endlich den ersten Zauber, der Licht erzeugte. Licht war verräterisch, aber nützlich.

"Zeige mir, was du sonst noch hast.", murmelte Myrtax eifrig und begann zu lesen. Das Buch bot ihm kaum Widerstand und bis auf einige Verständnisprobleme aufgrund des alten Vampirisch, die er später nachschlagen musste, verstand er genug, um einige Dinge zu wissen.

Vor allem musste er jetzt mehr über Magie lernen. Und da kam ihm der Druide gerade recht.

 

 

 

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