Das Licht über Bundobran nimmt allmählich eine orange Farbe an. Mit dem Abendrot fällt ein beachtlicher Teil des beschaulichen Örtchens im wichtigsten Treffpunkt ein: der Taverne zum Blauen Boggel. In der Gaststube sitzen bald gut zwei Dutzend Gäste, alle mit einem Krug Bier oder Met vor sich. Die Bedienung, eine bildhübsche junge Halbling namens Nikki, eilt qurilig zwischen den Tischen auf und ab, verteilt neben den Getränken auch Braten und zwinkert vielen der jungen Gäste zu. Als ein Halbling mit vom Met geröteten Wangen ihr besonders lange nachsieht, stößt sein Nebenmann, der für einen Halbling zu groß, für einen Menschen aber etwas zu klein ist, ihn an. „Krieg dich wieder ein! Geht doch wieder nur um Trinkgeld.“ - „Meinst du, ihre Großmutter war eine Elfin oder so? Elfen sollen doch auch so schöne Augen haben!“ - „Ach, was weiß ich, mit wem ihr Oheim im Heu gelegen hat. Aber ich weiß, dass die nächste Runde auf dich geht, Eddie.“ Neben all dem Trubel fällt die Gestalt in der hinteren Ecke der Stube, neben dem Kachelofen, gar nicht auf. Regungs- und lautlos sitzt sie dort in einem Schaukelstuhl und schläft. Würden die Gäste sie ansehen, wären sie sicher erstaunt herübergekommen: Die Züge dieser schlaksigen Erscheinung sind die eines Luchses, mit großen Pinselohren und einem etwas ermatteten Fell. Gekleidet ist sie, passend zur kälter werdenden Jahreszeit, in mehrere Schichten aus ungewöhnlich bunten Stoffen. Ein ledernes Übergewand hängt hinter ihr auf dem Schaukelstuhl.
Als die Stimmung in der Taverne sich allmählich dem Höhepunkt nähert, erwacht die dünne Gestalt plötzlich, wie auf ein Zeichen. Sie drückt sich aus dem Schaukelstuhl, schreitet langsam in den Schein des Feuers und streckt sich erst einmal Aufmerksamkeit heischend. Und die Aufmerksamkeit lässt in der Tat nicht auf sich warten. An jedem Tisch werden Schultern angetippt und wird auffällig unauffällig auf den Fremden gedeutet. Der Geräuschpegel sinkt und eine Atmosphäre der Erwartung senkt sich über den Raum. Selbst Nikki bleibt kurz stehen und sieht sich um.
Der Fremde gähnt noch kurz, wobei er ein Arsenal an scharfen, spitzen Zähnen offenbart. Dann wendet er sich mit einer kratzigen und seltsam akzentuierten, aber deutlichen Stimme an die Anwesenden. „Guten Abend, Leute von Bundobran. Ich spüre, ihr seid mit unserer Tradition der Geschichten vertraut. Nun denn. Versammelt euch um mich! Stellt eure Krüge beiseite, saufen könnt ihr später immer noch. Setzt euch hier zu mir, um den Kamin herum und hört, was ich zu erzählen habe. Und wenn es euch gefällt, dann gebt mir Münzen dafür oder wenigstens einen Humpen Met. Ich weiß so gut wie ihr, kaum einer von euch wird diese Insel zu Lebzeiten verlassen, denn hier habt ihr es gut genug. Doch ich kann zu euch tragen, wie dort draußen Geschichte gelebt wird. Na los doch, kommt näher! Ich beiße nicht, und kratzen tue ich nur selten.“
Der Fremde stellt sich vor den Kamin, während sein Publikum sich auf Stühlen sitzend um ihn herum versammelt. „Vorab, damit wir uns verstehen: Ihr alle wisst, was die Trabanten sind, oder? Es sind die fünf Kugeln, die wir am Himmel sehen können. Wisst ihr, wie sie heißen? Ja, genau, die Sonne, oder eigentlich Igna, ist die erste davon. Der elementare Trabant des Feuers, der den Tag bringt, der die Feldfrüchte wachsen lässt und euch nackten Gestalten im Sommer die Haut röstet. Was sagst du? Aqua, jawohl. Das ist unsere Nummer zwei, der elementare Trabant des Wassers. Es gibt keine Sturmflut, bei der er nicht am Himmel steht. Ein wundervoller azurblauer Ball, und doch bringt er viel Unglück. Doch er bringt auch den Regen, sagt man. Und von Sonne allein wächst nunmal nichts. Und ja, Terra ist unsere Nummer drei. Ein wunderhübscher Ball aus Stein und Kristallen. Manchmal funkelt er, wenn man hinsieht, es ist wunderschön … aber ich schweife ab. Terra verdanken wir Erdbeben, Erdrutsche und all den Dreck, behaupten manche. Aura! Genau. Das ist unser letzter der elementaren Trabanten. Ein Ding aus Nebel, Wolken und dem gelegentlichen Wirbelsturm. Habt ihr noch nie gesehen? Das ist, weil ihr immer nur auf den Boden vor euch schaut und euch keine Zeit nehmt, in den Himmel zu sehen!
Und was fehlt uns nun noch? Genau, der Mond. Wisst ihr, dass viele Sprachen nur ein Wort für „Mond“ und „Tod“ haben? Unsere, Tabascha, gehört dazu. Aber auch die Sprache der Rumenja im Osten. Selbst das Drakonisch, die Sprache der Leute aus der Morgenrotwüste, kennt dafür nur ein Wort: „Mors“. Warum? Weil der Mond nur nachts zu sehen ist und weil die Nacht den Tod bringt. Nachts kriechen die Wesen aus den Wäldern, die uns den Tod bringen können. Nachts sterben eure Alten und wachen am Morgen nicht mehr auf. Nachts seht ihr nicht weiter als der Schein eurer Laterne reicht und ich nicht weiter als ein paar dutzend Meter. Nachts jagt all das, was euch wittern kann. Wölfe. Wolfsmenschen.“ Die Stimme des Erzählers ist nun leiser, verschwörerischer geworden. „Nachts waren die untoten Kreaturen am stärksten, die die Plage von Rumenja auf das Land losgelassen hat. Nachts – sollten wir alle besser schlafen, sicher eingesperrt in unseren Häusern.“ Der Tabaxi macht in der angespannten Stimmung eine kurze Kunstpause, bevor er schulterzuckend fortfährt. „Oder in die Taverne trinken gehen. Da war noch nie verkehrt.“ Einige der Anwesendenden lächeln erleichtert.
„Doch zurück zu diesen elementaren Trabanten.“ Der Erzähler lässt seinen Blick über die Gäste schweifen, die ihm alle gebannt zuhören. „Ahnt ihr, welche Kräfte in diesen elementaren Mächten wohnen? Ich habe schon angedeutet, was man ihrem Einfluss nachsagt. Vulkanausbrüche? Igna. Flutwellen? Aqua. Erdbeben? Terra. Stürme? Aura. Und ich sage euch, jede Macht ruft Neider auf den Plan. Ja, sogar die Macht der Elemente. Und wer giert nach Macht wie niemand sonst? Jaaa, natürlich Magier.“ Ein paar der Anwesenden nicken argwöhnisch. „Nicht die Priester, die eure gebrochenen Beine zusammenflicken, nein. Ich meine die Bücherwürmer, die immer neue, immer mächtigere Zauber erfinden wollen und dabei genau wissen, wie gefährlich das ist. Und obwohl ein Magier allein schon genug Ärger machen kann – besonders gefährlich wird es, wenn sie sich zusammentun. Wenn sie zusammen Magie wirken wollen. Es ist noch gar nicht so lange her, da geschah es, dass sich so eine Gruppe zusammengefunden hat und ihr Ziel war es -“ Der Tabaxi hält kurz inne und sieht noch einmal durch die Runde, bevor er besonders artikuliert fortfährt: „Götter zu werden.“ Kopfschütteln. „Was man als Magier nun mal so will. Man nennt sie heute die Sternreißer. Warum, dazu komme ich noch.
Diese schäbige Kabale von Zauberern versammelte sich im schönen Cennai, einem Land südwestlich von hier, jenseits der Dämmerungsinseln. Und sie führten eines der mächtigsten Rituale aus, das jemals von sterblichen Wesen gewirkt wurde. Ich weiß nicht, was dafür alles nötig war, doch sie beschworen die mächtigsten Kreaturen der vier elementaren Trabanten auf Kjeru hinab. Mächtige Elementargeister von Feuer, Wasser, Erde und Luft, die miteinander eine bestimmte Fähigkeit hatten, hinter der die Magier her waren:“ Der Tabaxi macht eine besonders lange Pause und hebt wichtigtuerisch die Brauen. „Sie sind in der Lage, einen Wunsch zu erfüllen. Jeden Wunsch. Und was wollten sich die Magier wünschen?“ Nikki verteilt ein paar weitere Humpen Met und meint halblaut: „Sie wollten Götter werden?“ „Sie wollten Götter werden.“, bestätigt der Fremde. „Sie wirkten also das Ritual, begierig auf die Unsterblichkeit, die sie erhalten würden – und dann geschah ein Unglück, wie das bei solcher mächtigen Magie eben ist. Und plötzlich waren da nicht nur die vier Elementargeister. Nein, ein dunkles Portal zu den Sternen hatte sich geöffnet.“ Es ist nun mucksmäuschenstill im Raum. Selbst Nikki ist mit leerem Tablett in der Hand stehengeblieben und hört gespannt zu. „Und ihm entstiegen und entflogen die absonderlichsten, boshaftesten Wesen, die diese Welt je gesehen hat. Kreaturen, die aussahen wie Bälle mit Augen. Wie Mischungen aus Menschen und Tintenfischen. Stellt euch euren schlimmsten Albtraum vor und er war vermutlich dabei.“ Einige der Gäste sehen aus, als kämen ihnen diese Wesen aus anderen Geschichten bekannt vor.
„Das erste, was diese Kreaturen taten, war, die Magier zu töten und zu fressen. Danach begannen sie, den Ort der Beschwörung zu verlassen, während immer neue, immer Größere durch das Portal nachkamen. Die Elementargeister aber sahen, dass auch sie diese düsteren Wesen, diese Verbrechen am Sein, nicht dulden konnten. Sie fassten einander an den Händen und bestimmten ihren Wunsch selbst: Sie schlossen das Portal.“
Eddie, der sich einen Stehplatz neben Nikki gesichert hat, versucht, nach ihrer Hand zu fassen, doch sie schlägt sie weg, ohne hinzusehen. „Seither haben immer wieder Leute Kreaturen gesichtet, die in keiner Sammlung dieser Welt katalogisiert sind“, fährt der Tabaxi fort, „Sie verkriechen sich meistens dort, wo die Strahlen der Sonne nicht hinreichen, denn sie vertragen oft kein Licht. Deswegen erzählen wir unseren Kindern, dass es eine dumme Idee ist, in jede Höhle zu steigen, die sie finden können. Man weiß nie, was darin lauert. Aber das ist nicht die einzige Lektion daraus. Hört vielmehr diese: Uns Sterblichen sind Grenzen gesetzt, doch das ist gut so. Sie sprengen zu wollen, führt ins Verderben. Lasst die Geschichte von den Sternenreißern Beweis dafür und Erinnerung daran sein.“
Als der Fremde mit seiner Erzählung fertig ist, drücken ihm gleich mehrere seiner Zuhörer Metkrüge in die Hand, und auch manche Münze wird ihm zugesteckt. Er genießt es sichtlich, am Kamin umringt zu sein und mit Fragen zu anderen Teilen der Welt gelöchert zu werden, die er allesamt mit kryptischen, nichtssagenden Worten beantwortet. Als er davon und vom Met genug hat, verschwindet er schließlich auf leisen Sohlen die Treppe zu den Gasträumen hinauf. Auch die Einheimischen bleiben nicht viel länger, denn sie wissen nicht erst seit den Erzählungen des Abends, dass die Nacht vor allem zum Schlafen da ist. Es bleibt zuletzt nur Nikki allein zurück, die übrige Humpen und Holzteller verräumt und zuletzt den Boden wischt. Bevor sie geht, hält sie mit dem Schlüssel in der Hand kurz inne und wirft einen langen Blick zum Kamin. Einen langen Blick, der nicht den Kamin sieht oder das Feuer dahinter, sondern Geschichten, ferne Länder – Abenteuer.