Lud nie aufgefallen, wie eng es in der Wohnstube ist, als er noch den ganzen Tag zwischen den Hühnern, den Schweinen, dem Schuppen und dem Kaminfeuer hin und her gerannt ist. Die brütende Sommerhitze gibt dem Raum noch dazu die Temperatur eines Backofens.
Er lehnt inzwischen die meiste Zeit an der Wand. Angeblich sind das großartige Fortschritte nach nur drei Wochen. Von hier aus kann man zwar mehr sehen als nur die Decke, aber dafür sieht er jetzt ständig die Wände. Ihm ist nie aufgefallen, wie voll der kleine Raum ist. Stühle am Tisch, der Tisch keine zwei Schritt vom Kamin, der Kamin direkt neben dem Schrank, die Schlafnischen direkt am Schrank. Die wuchtigen Möbel schieben sich in den Raum hinein und pressen die Luft darin zusammen.
Die Staubteilchen vor dem Fenster sind inzwischen sowas wie eine Zuflucht geworden. Wenn die Wände wieder auf seine Lungen drücken und ihm die Decke immer näher kommt, dann starrt er in den Lichtstrahl und sieht ihnen zu, wie sie tanzen und schweben. Für so ein winziges Ding, das immer auf und ab und im Kreis herum zuckelt ist die Strecke zwischen Boden und Decke unendlich groß. Er überlegt, wie viele davon sich übereinander stapeln müssten, um von den Dielen zu den Deckenbalken zu reichen, scheitert aber daran, dass er nicht weiter als bis ein Dutzend zählen kann. Mal überlegen. Wie groß wären ein Dutzend winzige Teilchen? Kaum so dick wie eine Schweineborste oder höchstens ein Fingernagel. Ein Dutzend Fingernägel sind vielleicht so hoch wie einer von Gerlindas Fingern. Ein Dutzend Finger...
Draußen rumpelt und kracht etwas Schweres auf etwas Unnachgiebiges. Leute rufen sich gegenseitig Beschimpfungen zu, dann verklingen die Stimmen und es stellen sich wieder die Geräusche allgemeiner Geschäftigkeit ein. Stimmen ächzen. Schritte hasten, stapfen, schlurfen und stampfen.
Er sollte sich zusammenreißen und sich nützlich machen.
Auf seinen Oberschenkel liegt eine Hose. Er nimmt die Knochennadel wieder auf und besieht sich den Stoff. Hm. Er steckt die Nadel in den Mund und hält die Hose gegens Licht. Ah. Da ist eine Stelle am Hosenboden, die ein kleines Loch hat.
Normalerweise würde sich niemand die Mühe machen solche Kleinigkeiten zu flicken, dazu ist der Tag zu wertvoll. Aber inzwischen sind ihr wohl die Kleidungsstücke ausgegangen, die wirklich repariert werden müssen.
Nicht zum ersten Mal beschleicht ihn das Gefühl, dass er seiner Schwägerin nur noch mehr Arbeit macht, indem er darauf besteht ihr helfen zu wollen. Aber er darf nicht anfangen darüber nachzudenken. Nur nicht denken. Das hat ihm noch nie Gutes gebracht.
Vielleicht kann er die Nähte verbessern. Am Zwickel sind sie etwas unsauber, sodass das Material an einer Stelle stärker belastet ist als an andern.
Die Hühner gackern aufgebracht und flattern wild.
Er sieht auf. Wer kommt denn da? Doch nicht der Pfaffe oder?
Die Tür scharrt und eine bullige, aber kurze Gestalt füllt den Türrahmen in voller Breite aus.
Lud lässt die Nadel sinken.
Es ist Schmied. Sein Lehrmeister, bevor er zum Krüppel geworden ist.
Das runde Gesicht mit den riesigen Ohren und der riesigen Nase hier zu sehen hat etwas befremdliches. Luds Kehle fühlt sich an, als würde sie versuchen einen riesigen Klumpen hinunter würgen der den Hals ausfüllt.
Schmied stapft schwerfällig herein, bleibt neben dem Tisch stehen. Normalerweise ist sein Lehrmeister einen Kopf kleiner als er aber jetzt sieht er auf Lud herunter.
"Bist jetzt Schneider?", fragt Schmied barsch.
Lud merkt, wie seine Ohren warm werden. Was eigentlich nicht möglich sein sollte, so heiß wie es hier drin ist.
"Hab früher dabei geholfen.", nuschelt er. Wenn man nur Söhne und keine Töchter hat, muss der Jüngste halt Frauenarbeit erledigen.
Schmied mustert ihn weiter ohne eine Regung zu verraten.
Lud starrt zurück. Man darf sich von ihm nicht nervös machen lassen, dann ist er ein lieber Kerl.
Eigentlich heißt er Peter. Aber so nennt ihn niemand. Und er ist der einzige, der Lud nicht für dumm hält. Zumindest manchmal nicht. Und ihn nicht für seine komischen Ideen verlacht. Na gut, Gerlinda velacht ihn auch nicht, aber sie hält ihn für einen liebenswerten Trottel.
"Was machst du hier?", fragt Lud, als ihm das Gestarre dann doch zu unangenehm wird.
Schmied ruckt mit dem Kopf, als hätte man ihn aus einem ernsten Gebet gerissen.
"Ist Sonntag.", brummt er unverbindlich.
"Oh.", macht Lud. Für die Schweine und den Acker ist nie Sonntag, drum merkt er es in letzter Zeit immer erst Nachts, wenn die Familie spät nach Hause kommt wegen der Sonntagspredigt.
"Dachte Sonntag ist Putztag.", wundert sich Lud. Er versucht ein schiefes Grinsen. "Oder hast du verlernt wie man sauber macht wo ich nicht mehr da bin?"
Das Grinsen ist wirklich sehr schief und der Scherz nicht besonders lustig. Schmied lacht trotzdem und Lud merkt, dass seine Schultern sich ein wenig entkrampfen.
Schmied hört auf zu lachen, sein Blick fixiert einen Punkt über Luds Kopf.
"Warst ein guter Lehrling.", brummt er.
Oh Nein. Bitte nicht. Der Klumpen füllt jetzt auch noch schmerzhaft den Brustkorb.
Schmied fährt langsam fort, als lese er die Worte aus der Luft ab. Dabei kann er gar nicht Lesen, was erklären würde, warum sie so langsam hervor purzeln.
"Hab wirklich keinen Verlust gemacht mit unserer Abmachung. Im Gegenteil, wenn ich's recht bedenk, denk ich mir, Schmied, an dem Burschen hast du gut verdient. Hat immer angepackt für zwei und jemand der so geschickt darin is die Griffe zu schnitzen findest du nicht wieder. Und dann diese praktische Sache mit dem Seil und der Stange am Blasebalg." Unbeholfen zuckt er mit den Schultern. Er langt hinter sich auf den Rücken, wo etwas mit einem Riemen festgemacht zu sein scheint.
"Und wo er jetz nich mehr den Lohn dafür einstreichen kann, dass er bei dir geschuftet hat, isses doch wohl deine Christenpflicht ihm Bisschen was zurück zu erstatten."
Mit einem Plonk-klonk landet ein Leinenbündel neben Lud auf den Dielen.
Schmied reibt sich verlegen die Hände und räuspert sich.
"Na, dann werd ich mal gehen und sehen, ob ich mich erinnere, wie man ohne einen Lehrburschen den Boden gefegt bekommt."
Lud macht einfach nur große Augen. Man sagt irgendwas, wenn Leute weg gehen, aber seine Zunge lässt ihn nicht zum ersten Mal im Stich.
Mit dem Schürhaken zieht Lud das Bündel ein Stück näher. Es klappert darin.
Es ist ärgerlich, dass seine Finger zittern, als er es auseinander zieht, aber zumindest ist niemand da um es zu sehen.
In einen Streifen Polierleder eingeschlagen glänzen sauber gefettet ein Schnitzmesser, ein Holzbohrer und eine Feile. Außerdem enthält der Beutel noch unterschiedlich große Stücke Hartholz und eine Rolle reißfestes Zwirn.
Hinter seinen Wangen spannt sich alles und gleich darauf kommen die Tränen.
Wellen aus Dankbarkeit und Kummer schüttlen seinen Körper bis er erschöpft gegen die Wand sinkt und sich zur Seite rutschen lässt, den Beutel an die Brust gepresst.
Schmied is'n Guter... :' )
Ein gutes Vorbild darf Wolf scho haben neben all den Pfeifen.
Mir geht's wie dem Hex - bin schwer überrascht von positiven Beispielen der Gattung Mensch... ^~^°