Der Trinkschlau war leer getrunken, als Theovin erwachte. Er richtete sich im Bett auf. Sofort spurtete Pecus zu ihm.
„Nicht bewegen! Die Wunde darf auf keinen Fall aufreißen! Ich habe nichts da, um sie zu nähen.“
Theovin, der bis gerade eben regungslos da gelegen hatte, musterte den Heiler. Dann sah er zu Belasar.
„Ich bin Pecus“, stellte sich sein Retter vor.
„T-Theovin“, stammelte der Verletzte.
Benommen ließ er seinen Kopf auf dem Bett nieder. Belasar stand auf und beäugte ihn. Er stupste Theovin, wenige Fingerbreit über der Wunde.
„Au!“, kam es nur von diesem und der Größere nahm die Hände von ihm, wie ein Kind, welches seine Unschuld zeigen wollte.
Belasar drehte sich zu Pecus und fragte, wie lange sie noch in dem Haus verweilen sollten.
„Bis jetzt ist es sicher gewesen, aber ich verstehe deine Bedenken. Wir wissen nicht, wo sie sind und wann sie kommen.“
Der Bär und der Heiler schwiegen mit gerunzelten Minen, überlegten das weitere Vorgehen.
„Wo wer ist?“
Die beiden drehten sich um und sahen zu Theovin, welcher sich in diesem Moment anzog. Pecus wollte zu dem Verletzen hinlaufen, aber Belasar packte ihn am Kragen seines Wamses.
Von Nahem erkannte er den Ausläufer einer Narbe an dessen Hals. Der große Soldat kannte diese Verletzung. Sie kam von einer Peitsche. Der Heiler war einmal ein Sklave gewesen.
„Diese Mistviecher, die unsere Männer getötet haben“, erwiderte Belasar, ohne dem Vernarbten seine Frage zu beantworten.
„Dämonische Wesen. Sie können Albträume und Visionen erschaffen, um damit Opfer anzulocken, welche sie danach niedermetzeln“, ergänzte Pecus.
Belasar warf dem Heiler einen kritischen Blick zu, dafür, dass er Theovin mit diesem Wissen überforderte. Zum Erstaunen des Bären stellte der Vernarbte die Aussage nicht in Frage.
Stattdessen nickte er nur mit apathischer Mine. Es war, als würde er an einen schrecklichen Gedanken erinnert.
„Auf jeden Fall müssen wir hier weg“, fasste Belasar die Gedanken aller Anwesenden zusammen.
„Am besten gehen wir zum Lager zurück.“, schlug Pecus vor. „Wenn wir Glück haben, gibt es dort Überlebende.“
Belasar stimmte zu, dann sah er zu Theovin. Dieser starrte auf die Decke und schien nichts von dem Gespräch mitbekommen zu haben.
Schulterzuckend drehte er sich zum Heiler. Was immer den vernarbten Mann so aus dem Zeitgeschehen entriss, der Bär wollte nicht darauf eingehen.
„Aber es wir zu gefährlich sein, durch die Gassen zu laufen“, sagte Pecus mit zittriger Stimme.
Er rieb die Hände aneinander, hielt sie sich vor den Mund und hauchte sie an. Dann steckte er sie zurück in die Handschuhe.
Die beiden überlegten. Der Wind pfiff am Fenster vorbei. Anscheinend war die kurze Windstille nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen.
„Die Dächer“, kam es von Theovin, der nach wie vor abwesend an die Decke starrte.
„Das ist eine.. Das ist eine sehr gute Idee. Die Gebäude stehen hier so nah aneinander, dass das gehen sollte. Außerdem können wir dann leichter den Weg finden, wenn wir uns an der äußeren Mauer orientieren“, sagte Pecus mit einem Anflug von Hoffnung im Gesicht.
„Und wie kommen wir da hoch, geschweige denn herunter?“, fragte Belasar, in Theovins Richtung nickend.
Fall sie klettern mussten, traute er es dem schwächlichen Mann nicht zu. Für einen kurzen Augenblick funkelten die Augen des Bären, als er daran dachte, dass Pecus den Verletzten hier liegen lassen wollte.
„Es ist einen Versuch wert. Besser als durch die Gassen zu streifen ist es allemal“, kam es von Pecus.
Eine Pause entstand.
„Ich gehe mal nach einem Aufweg suchen. Über uns ist noch eine Etage, womöglich geht es von dort nach oben.“
Mit diesen Worten schritt Pecus zu einer Leiter, welche gegenüber dem Bett an der Wand lehnte. Belasar hatte diese bis zuletzt nicht bemerkt.
Das alte Holz knarzte und Belasar dachte für einen Augenblick es würde durchbrechen, doch Pecus kam unbeschadet im oberen Stock an. Der Bär ging im Raum auf und ab. Im Augenwinkel sah er zu dem Verletzten, der mit voller Montur auf der Strohmatratze lag.
„Es geht nicht bis aufs Dach“, ertönte die ernüchternde Nachricht. „Aber wenn wir durch das Fenster hier klettern, kommen wir aufs Nächste.“
Belasar atmete durch. Dann ging er zu Theovin und stütze ihn, während dieser sich erhob.
„Kannst du laufen?“
Der Verletzte setzte einen Fuß vor den anderen und fasste sich an den Bauch. Er verzog das Gesicht und versuchte noch einen Schritt und wieder einen. Er lief bis zur Leiter, wobei jedes Aufsetzen weniger unbeholfen wirkte, als das vorige.
„Es geht schon“, erwiderte Theovin.
Der Verletzte kletterte die Leiter nach oben und Belasar kam ihm nach. Bei jedem Balken, auf den dieser stieg, bemerkte er, wie er sich durchbog. Durch den Spalt im Boden, der oberen Etage, passte der Bär gerade so.
Das Fenster, welches der Heiler erwähnt hatte, war nichts als ein viereckiges Loch in der Wand. Hindurch erkannte man ein Spitzdach, welche von Schnee bedeckt waren.
Nach und nach stiegen die Männer durch das Fenster und klammerten sich an die Ziegel. Es war rutschig und unberechenbar. Ob sich unter dem Schnee ein Dachziegel befand und ob dieser Abbrechen oder an seiner Stelle bleiben würde, wusste keiner. Zum Glück der Truppe befanden sich am Ende der Dächer Regenrinnen, welche im Notfall genutzt werden konnten, um nicht vom Dach zu fallen.
Es erstaunte Belasar, dass die auf den ersten Blick uralte Festung Lehmziegel und metallene Rinnen besaß. Zwar hatte er nie eine Heimat gehabt, aber die Stadt Rinveringen, an der er zu früheren Zeiten als Söldner stationiert worden war und welche wie ein Zuhause für ihn war, hatte nichts davon besessen.
Im Westen färbte sich der Himmel orange-rot, wie die Blätter einer Schimmerblüte. Zum Vorteil der Männer nahm der Windzug ab, dafür wurde es kälter, da die Nacht hereinbrach. Schnee begann zu fallen, während sie mit großer Anstrengung über die Dächer kletterten.
Jetzt zeigten sich die Folgen des Aufstiegs, der sie schon so viel Anstrengung gekostet hatte. Selbst Belasar spürte den Schmerz in seinen Beinen und Armen.
Als Verschnaufpausen dienten jene Gebäude, bei denen Teile des Dachbodens eingestürzt waren. Dort hatten sich Schneeberge angesammelt.
Während sie sich vorwärts kämpften, blendeten sie dabei nie die Gefahr aus, welche von diesem Ort ausging. Wer wusste schon, ob sie auf den Dächern vor den monströsen Kreaturen sicher waren und wenn ja, für wie lange.
Als der Himmel einen blutroten Ton angenommen hatte, erkannten sie das Hauptlager. Dank dem stärker werdenden Schneefall und der Entfernung konnten sie die Situation dort unmöglich einschätzen. Pecus erwähnte auf der Mauer einen schwarzen Punkt als Soldaten identifiziert zu haben, doch dies blieb das einzige Lebenszeichen, abgesehen von vier Rauchschwaden, welche von den Feuern ausgingen, die im Innenhof brannten.