Als der Zug sich in Bewegung setzte, fand Johann Zeit, die Ereignisse der letzten Tage zu überdenken. Wie zum Abschiedsgruß flatterten am Bahnhof von Prag die österreichischen Fahnen, in einer halben Stunde würde der Zug die tschechisch-polnischen Grenze überschreiten; und dann würde das Abenteuer richtig beginnen.
Schon in Prag hatte eine gewisse Beklemmung Johann befallen, je näher die Grenze kam in ein Land, aus dem es auch im Notfall kein Zurück gäbe. Im sowjetischen Konsulat in Prag war er zwar kühl, aber sehr respektvoll empfangen worden. Er wurde zuerst von einem sowjetischen Arzt, der ausgezeichnet Deutsch sprach, untersucht. Danach wurde er von zwei Uniformierten, dann vom Konsul befragt. Es ging um seine persönlichen Daten, seinen Aufenthalt in Rom und das Ziel seiner Reise nach Moskau. Während der gesamten Zeit übersetzte ein junger Zivilist, der sich ihm als Leonid Schachlikow vorgestellt hatte.
Diese Befragung war ihm zwar vorher von Oberstleutnant Bruschek angekündigt und sogar ziemlich genau in ihrem Ablauf beschrieben worden, dennoch vermittelte sie ihm zum ersten Mal den Ernst jener Reise, die zuerst fast wie ein Urlaub begonnen hatte. Der Übersetzer hatte Johann zuletzt auch eine kleine Mappe mit Informationen gegeben. Er würde während der Fahrt gemeinsam mit den beiden anderen Österreichern und dem Arzt, der als Doktor Bodin vorgestellt wurde, in einem eigens dafür reservierten Wagen fahren, wo auch die Mahlzeiten eingenommen würden. Eine vornehme Form der Haft, dachte Johann, aber mit wem sollte ich im allgemeinen Speisewagen schon sprechen, wo ich doch kein Wort Russisch oder Polnisch verstehe?
In Moskau würde Johann am Bahnhof mit seiner Kontaktperson zusammentreffen. Der Dolmetscher, Schachlikow, würde im Hotel das Zimmer neben ihm bewohnen und ihm für alle Übersetzertätigkeiten zur Verfügung stehen. Auch das wohl nur die höfliche Umschreibung dafür, dass er keinen Schritt ohne Begleitung würde gehen können. Aber wozu auch. Seine Vorstellung von Moskau war von einigen Bildern über endlose, langweilige Plattenbausiedlungen geprägt; dort würde er sowieso nicht spazieren wollen. Und wenn seine Hauptaufgabe in der Herstellung eines tragfähigen Kontakts zu seinem Ansprechpartner von der gegnerischen Seite sein sollte, würde er sowieso allein nicht viel zu tun haben.
Prag war, obwohl Johann nur einen Tag mit wenig Freizeit gehabt hatte, ein wunderschönes Erlebnis gewesen. Johann war mit Leonid und Schachlikow auf den Hradschin hinaufgegangen, hat die Karlsbrücke überquert und sogar die in eine Bibliothek umgewandelte Kirche der Kreuzherren mit dem roten Stern besucht, die sich gleich neben der Karlsbrücke befindet.
Doch nichts hatte Johan vorbereitet auf den Prager Breitspurbahnhof. Während der Hauptbahnhof, an dem sie auch aus Wien kommend ausgestiegen waren, noch ganz das angestaubte Flair der österreichischen Monarchie ausstrahlte, war der Breitspurbahnhof ein ganz anderes Erlebnis: Die Bahnhofshalle erstreckte sich über drei Stockwerke, um die Passagiere der verschiedenen Klassen effektiv zu trennen und ihnen den entsprechenden Komfort und Service zu bieten.
Während die Beton-Stahl-Glas-Architektur im Stil des Alliierten Realismus schlicht und funktional gehalten war, bot die Gestaltung der Innenraumdekoration die Aufteilung der drei Ebenen in Blau, Weiß und Rot nach den tschechischen Nationalfarben. Die Betonstatuen auf der Außenseite zeigten Figuren aus tschechischen Märchen.
Die tschechischen Polizisten, die sie von der österreichischen Botschaft zum Bahnhof begleiteten, übergaben die Gruppe am mittleren Eingang an fünf Personen in Eisenbahnuniformen.
Der mittlere Eingang in die Halle wurde von den uniformierten Begleitern geöffnet. Dahinter warteten freundliche lächelnde tschechische Bahnbeamtinnen, so viele wie die Gruppe Personen umfasste und jeder wurde von seiner persönlichen Stewardess begrüßt, die auch Gepäckverwaltung und Pass- wie Ticketkontrolle übernahm. Johann hatte so etwas noch nicht erlebt, nicht einmal bei dem erstaunlich bequemen Reisen von Rom nach Wien in der Ersten Klasse. Wie jeder andere Europäer hatte er von dem sagenumwobenen Breitspurbahnprojekt gehört, aber der römische Breitspurbahnhof war zumindest nach außen eher einem römischen Tempel nachempfunden, nur eben aus Beton mit Statuen der ersten Cäsaren.
„Das wär’ doch einmal was, wenn wir so einen Bahnhof nach Wien bekämen!“ entkam es auch Thomas, der neben Johann und hinter Oberstleutnant Bruschek ging.
Über die zentrale Monumentaltreppe, von der aus man auch die Bereiche der 2. und 1. Klasse rechts und links übersehen konnte, kam die Gruppe in das zweite Obergeschoss. Dort wurden sie mit Champagner und Brötchen begrüßt, bevor jeder in eine Suiten geführt wurde.
Johanns Stewardess öffnete die Türe mit ihrem Schlüssel und deutete Johann einzutreten: „Herr Erath, die Europäische Breitspurbahn wünscht Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Während wir Ihre Papiere bearbeiten, genießen Sie bitte Ihren Aufenthalt. Hier finden Sie ein Bad, dort ist das Wohnzimmer und dahinter das Schlafzimmer, falls Sie sich noch ausruhen möchten. Ich werde Sie in einer Stunde abholen, damit Sie in den Zug einsteigen können.“
Johann war von der Vorstellung geblendet, dass Warteräume nicht große Hallen mit hölzernen Sesseln sein konnten, sondern private Wohnungen - diese hier war größer als sein römisches Zimmer in der Anima.
„Wenn Sie etwas brauchen oder das Zimmer verlassen wollen, drücken Sie bitte diesen Knopf!“, die freundliche Stewardess deutete auf einen bronzenen Knopf neben der Türe, bevor sie ihm lächelnd zunickte, hinausging und die Türe hinter sich versperrte.
Das schien Johann nun doch ungewöhnlich, denn normale Gäste würden sicher den Schlüssel behalten und selbst abschließen dürfen. Doch diese Reise war nicht normal.
Johann beschloss, das Zimmer zu erkunden: Das Bad war mit einer großen Wanne und einem Waschbecken ausgestattet, an der Garderobe gab es genug Kleiderbügel, um mehrere Mäntel aufzuhängen. Als er die Türe zum Wohnzimmer öffnete, staunte er noch mehr: Um einen niedrigen Tisch waren zwei plüschige Bänke und zwei Fauteuils angeordnet, auf dem Tisch stand eine kleine Schale mit Nüssen und ein paar tschechische Zeitungen. Auf einem Esstisch, an dem vier Sessel standen, war ein Tischtuch ausgebreitet und ein Essen unter silbernen Kuppeln auf Warmhalteplatten abgestellt. Eine kleine Speisekarte auf Tschechisch und Deutsch erklärte die drei Kuppeln: Vorspeise: Kulajda (Böhmische Schwammerlsuppe), Svíčková na Smetaně (Geschmortes Rindfleisch mit böhmischen Knödeln und Rahmsauce) und Bábovka (Tschechischer Marmor-Kuchen). Johann staunte und schüttelte den Kopf. Sie wissen, wer ich bin, sonst wären die Speisekarten nicht auf Tschechisch und Deutsch beschriftet. Kurz dachte er an das lustige Geheimagentenbuch zurück, das James ihm gezeigt hatte: Liebesgrüße aus Moskau? Wären die Speisen vergiftet? Wer sollte aber ihn schon vergiften wollen? Neugierig ging Johann zur Tür und öffnete sie, nur um auf ein Schlafzimmer zu stoßen, dessen Bett für zwei Personen geeignet war, die luftige Daunendecke war einladend zurückgeschlagen. Ein Schminktisch und zwei Kommoden boten noch mehr Platz, aber Johann verstand nicht, wozu dieser Luxus dienen sollte? Wer würde denn auf einem Bahnhof schlafen wollen? Allerdings, wenn man sehr spät abends oder sehr früh morgens ankäme, wäre das wohl eine Option.
Johann wollte sich schon dem Essen zuwenden, als er eine weitere Türe sah, die mit "Divadlo, kino a hudební galerie." beschriftet war. Er blickte noch einmal zu dem Essen, doch seine Neugierde überwog. Vorsichtig drückte er die Schnalle nach unten und drückte zaghaft gegen die Tür: Sie öffnete sich geräuschlos. Doch Johanns Herz erstarrte, als dahinter ein tschechischer Polizist genauso erschrak wie er. In gebrochenem Deutsch wies dieser ihn mit erhobene Hand zurecht: „Sondertouristen nix Loge zu Theater benützen heute.“
Noch bevor Johann das Missverständnis aufklären konnte, hatte der Polizist die Türe wieder zugezogen. Johann würde kein zweites Mal versuchen, sie zu öffnen. Hatten diese Zimmer wirklich eine eigene Loge zu dem Bahnhofstheater? war ihm eine wichtigere Frage, als warum ein Polizist zu seiner Bewachung abgestellt war. Ich soll auch durch den Hinterausgang nicht flüchten können. erschloss sich Johann der Gedanke. Doch dann setzte er sich und nahm zuerst die Suppe vom Warmhalter, hob den Deckel und genoss den Schwall herrlichen Pilzduftes.
Während Johann noch durch die tschechischen Zeitungen blätterte, von denen er allerdings nichts verstand, klopfte es an der Türe, bevor aufgesperrt wurde und die Stewardess wiederkam: „Herr Erath, hat Ihnen das Essen geschmeckt?“
Johann bejahte die Frage aus ganzem Herzen und wollte die Küche loben, doch seine Begleiterin blickte erstaunt auf die noch verschlossenen Bier-, Wein und Sliwowitzflasche: „Warum haben Sie denn nichts getrunken?“
„Das Wasser war hervorragend. Sie können aber gerne die alkoholischen Getränke nehmen und sagen, ich hätte sie Ihnen geschenkt.“
Entrüstet kommentierte die Stewardess: „Ich bin nicht korrupt!“ Dann gebot sie mit einer weniger freundlichebn Handbewegung, wieder hinaus in das Foyer zu kommen.
Johann hatte njur freundlich sein wollen, doch dass das als Korruptionsangebot ausgelegt würde, hatte er nicht bedacht. Welchers Bild habe ich von Tschechinnen? wühlte sich durch seinen Kopf. Bruschek und Thomas warteten schon, ebenso Bodin und Schachlikow sowie ein Mann in tschechischer Polizeiuniform und zwei zusätzlich Bahnwärter.
Die Stewardessen brachten sie vom großen Foyer aus über eine Stahlbrücke direkt in die Abfahrtshalle und zum Einstieg in einen zusätzlich angehängten Wagen, der sich farblich von den anderen Kolossen des Zuges unterschied. Vier russisch Uniformierte warteten schon am Eingang. Schachlikow stellte sich einen Schritt hinter die drei Österreicher und übersetzte flüsternd: „Unsere freundlichen tschechischen Genossen klären jetzt noch die letzten Übergabeformalitäten, sobald wir in den Zug gestiegen sein werden, wird er verplombt werden, damit wir nicht aus Missverständnis in Warschau aussteigen, wenn der Zug dort hält - unser letzter Stopp vor der Rückkehr in Mütterchen Russlands Schoß.“
Johann vermutete, dass de Text nicht ganz so freundlich im Original war, denn die Tschechen und Russen wechselten mehrmals durchaus lautere Kommentar, schließlich übergab allerdings ein tschechischer Bahnwärter eine Kassette, in der sich die Reisedokumente der Gruppe und einig zusätzliche Blätter befanden.
Johann wurde noch in seine Kabine begleitet: Wiederum ein riesiges Zimmer mit eigenem Bad, Schlaf- und Wohnzimmer. Letzteres hatte ein großes Fenster nach draußen. Da Johann im Obergeschoss untergebracht war, würde die Aussicht atemberaubend werden, sechs Meter über Grund.
Johanns Gedanken wurden durch ein Klopfen an der Abteiltür unterbrochen. Auf sein „Herein“ trat Generalwachtmeister Winter ein. „Hochwürden“, begann er mit einem verschmitzten Lächeln, weil er inzwischen wusste, dass diese Floskel Johann eher nervte, „darf ich kurz stören?“
Johann deutete ihm, auf dem zweiten Sitz am Fenster Platz zu nehmen: „Ich freue mich immer über diese Art von Störungen. Mit dem Ring sind wir durch, soll ich heute etwas über Wagners frühere Opern erzählen? Oder sollen wir uns langsam auf russische Opern einstimmen?“
Winter winkte ab: „Danke, die Musikinformationen der letzten zwei Tage reichen bei mir jetzt wohl für einige Zeit. Ich finde es bewundernswert, mit welcher Gelassenheit Sie dem baldigen Grenzübertritt entgegensehen. Selbst der Herr Oberstleutnant strahlt eine gewisse Unruhe aus.“
Johann antwortete: „Das liegt vielleicht an seinem sowjetischen Kameraden, diesem Oberst.“
„Gabrow. Ja, Oberst Gabrow ist zwar sehr freundlich, aber seit er uns durch die Pass- und Gepäckskontrollen auf dem Prager Bahnhof geführt hat, weicht er nicht von der Seite Oberstleutnant Bruscheks. Da er relativ gut Deutsch spricht, können sich die beiden ohne Dolmetscher unterhalten; und Lukaŝ Gabrow kann auch alles verstehen, was wir untereinander reden würden.“
Johann nickte: „Soweit ich ihn aus den wenigen Worten kennengelernt habe, die ich mit ihm am Bahnhof gewechselt habe, würde er wenig von dem verstehen, was ich zu sagen hätte, denn mit Religion scheint er nicht viel anzufangen.“
Winter lachte: „Sonst wäre er auch kaum Oberst in der Roten Armee geworden. Sie haben hier wirklich den Vorteil, dass sie am freiesten agieren können.“
Johann überlegte: „Wie meinen Sie das? Sie sind doch auch frei, jetzt, wo Ihr Vorgesetzter so in Beschlag genommen ist. Und Wache stehen am Gang ist auch nicht mehr nötig, weil wir in einem völlig abgeschlossenen Wagen fahren.“
Winter blickte aus dem Fenster: „Aber selbst mir hat man, natürlich nur aus Platzgründen, einen Zimmergenossen gegeben. Es ist Ihr Dolmetscher.“
„Herr Schachlikow? Der scheint sehr nett zu sein. Zumindest war er mir gegenüber wesentlich freundlicher als das übrige Personal des Konsulats.“
Winter schien nun draußen etwas zu sehen: „Da hinten ist der tschechische Zaun. Wir werden sehen, wie es um die Freundlichkeit unserer Gastgeber bestellt ist, wenn wir drei Kilometer dahinter den sowjetischen Zaun passiert haben.“
Nun blickte auch Johann konzentrierter aus dem Fenster.
Der Zug hielt an. Schilder in lateinischer, tschechischer und in russischer Sprache kündigten das Verbot an, die drei Kilometer breite Zone zwischen den Zäunen zu betreten. Johann schmunzelte, als er die lateinische Zeile las. Als ob außer ein paar Juristen, Medizinern oder Theologen noch jemand lateinische Befehle lesen würde.
Neben dem mit zwei Wachtürmen gesicherten Doppeltor befand sich ein großes Gebäude, mit der Tschechischen Flagge geschmückt und von zwei Wachsoldaten, die neben dem Eingang standen, bewacht.
„Was für eine langweilige Aufgabe. Und auf der anderen Seite machen sie das wahrscheinlich genauso. Wie viele Leute könnten einer sinnvolleren Aufgabe nachgehen, wenn es diese Grenzen nicht mehr gäbe?“
Winter drehte sich nun wieder zu Johann um: „Halt, sie können ja nicht gleich die halbe Daseinsberechtigung unseres Militärs streichen. Wenn wir nicht mehr die territoriale Integrität unserer Heimat schützten, was sollten wir denn dann tun? Etwa die Franzosen in Algerien unterstützten?“
Johann zuckte zurück: „Gott bewahre! Ich meinte ja nur, dass mir der Aufwand übertrieben erscheint. Doch, wenn man genauer nachdenkt, wie oft sich das Territorium Österreichs während der letzten 500 Jahre geändert hat, trotz oder wegen militärischer Aktivitäten, werden sie zugeben müssen, dass das Militär nicht immer dieses vorgegebene Ziel der Landesverteidigung erreicht hat.“
„Ich bin zwar nicht so gebildet“, antwortete Winter, „aber erstens war es bis vor nicht allzu langer Zeit nicht nur eine Verteidigungsmacht, sondern auf Wunsch der politischen Führung auch eine Eroberungskraft. Und zweitens sind wir heutigen Soldaten auf das neue System vereidigt. Und auf Österreich in seinen derzeitigen Grenzen. Und die werden wir schützen.“
Johann dachte nach: „Es war nicht meine Absicht, Sie zu kränken. Ich bin eben nicht vom Fach und denke vielleicht zu naiv. Aber wenn wir grundsätzlich bejahen würden – was ja auch die Vereinten Nationen in ihrer Menschenrechtserklärung vom 23. April 1946 getan haben – dass alle Menschen gleich sind, warum sollte es dann Grenzen geben, die Gleiche von Gleichen trennen?“
Winter lachte auf: „Jetzt wird mir klar, warum sie in Wien so schnell reisemüde waren, als Ihr Kollege, der Militärpfarrer, über seine Ansichten zum richtigen Umgang mit den Kommunisten schwadronierte.“
Johann stöhnte auf: Dieser unselige Mensch! Am liebsten wäre Johann noch während des Essens aufgestanden und gegangen, als sein feistes Gegenüber in immer neuen Anläufen versuchte, ihn davon zu überzeugen, dass sich in der Sowjetunion ausschließlich menschenfressende Kommunisten, schießwütige Soldaten, sich prostituierende Frauen und jede Menge Juden, Buddhisten und Mohammedaner als geheime Machthaber aufhielten. Eine gottgefällige Lösung wäre es, die ganze Sowjetunion mit Atombomben von diesen Gefahren zu reinigen und dann mit Katholiken aus den überbevölkerten Regionen Afrikas wieder zu besiedeln. Auf die Nachfrage, wie denn die allgemeine Verfolgung religiöser Menschen mit einer ‚geheimen Machthaberschaft‘ von Buddhisten, Juden oder Anhängern des Islam vereinbar sei, gab es nur die flapsige Antwort, dass sie die anderen nur zur Tarnung verfolgen und töten würden; und unter den Inhaftierten prozentual sowieso mehr Christen wären. Wobei, so sein Gegenüber, diese Christen sowieso orthodox und damit schismatisch wären. Und die sowjetischen Gefangenenlager nur die gerechte Strafe für ihren Ungehorsam gegenüber dem Papst. Um aus diesem Strudel von Irrsinn zu kommen, hatte Johann versucht, mit der Frage nach der Prostitution auf ein mehr politisch ungefährlicheres Terrain auszuweichen; nur um erstaunt festzustellen, dass für den Militärpfarrer von Wien jede Frau, die einer Erwerbstätigkeit nachging, eine Prostituierte sei, weil sie ja ihren Körper und ihre Arbeitskraft für Geld irgendwelchen Männern zur Verfügung stellte. Und da mache es eben keinen Unterschied, ob sie in einer Fabrik, einer Kanzlei oder einem Bordell für Männer arbeite. Seiner Meinung nach sollten Frauen schnell heiraten, viele Kinder bekommen und ihrem Ehemann zu Diensten sein.
Johann schüttelte die furchtbaren Erinnerungen aus seinem Kopf gerade in dem Augenblick, als der Zug wieder Fahrt aufnahm. Die Wachsoldaten salutierten, und der Zug schleppte sich langsam an dem massiven Doppeltor vorbei. Doch er blieb sofort wieder, etwas ruckartig stehen.
„Stimmt etwas nicht?“ fragte Johann Generalwachtmeister Winter.
Dieser antwortete ruhig: „Nein, das ist hier der ganz normale Vorgang: Der Zug wird auf der tschechischen Seite kontrolliert. Sogar mit Wachhunden, damit sich niemand auf oder unter den Waggons versteckt. Dann wird das erste Tor geöffnet, der Zug fährt hinein und das Tor wird geschlossen. Dann meldet der zuständige Offizier seinem sowjetischen Gegenpart in der Kaserne auf der zweiten Seite, dass der Zug kontrolliert ist. Daraufhin wird das zweite Tor geöffnet, erst danach darf der Zug losfahren, um nicht den Eindruck zu erwecken, er wolle das Tor rammen. Auf der sowjetischen Seite wird der Zug nochmals kontrolliert, dann nimmt er Fahrt auf. Ab hier gibt es kein Zurück mehr.“
„Fürs Erste.“, meinte Johann.